20.04.2020

Alkohol-, Medikamente- und Drogenmiss­brauch in Zeiten von Corona

Die Folgen der Corona-Pandemie auf  Wirtschaft und Politik werden breit diskutiert. Ebenfalls in den Fokus gerückt werden muss die psychische Belastung der Menschen durch die Krise und deren Folgen. Es ist zu befürchten, dass der Missbrauch von Alkohol-, Medikamenten- und Drogen (nachfolgend als Substanzen bezeichnet) zunehmen.  

Der Experte Herbert Baumgartner, Leiter der Abteilung Jugend und Arbeitswelt im Institut Suchtprävention, hat uns 12 wichtige Fragen beantwortet.

FRAGE 1:

Wie wirkt sich die derzeitige Coronakrise auf den Konsum von Substanzen aus? Welche Veränderungen oder Entwicklungen nehmen Sie seit Ausbruch der Krise wahr?

Einige Anzeichen deuten darauf hin, dass Alkohol- und Medikamentenkonsum angestiegen sind. Andererseits gibt es Hinweise auf starke Umsatzrückgänge bei Brauereien, die Gastronomie hat ebenfalls geschlossen. Klare Aussagen über die Veränderungen im Substanzkonsum lassen sich also derzeit auf einer seriösen Datenbasis schwer treffen. 

FRAGE 2:

Eine Herausforderung, die in der Coronakrise viele Arbeitnehmer/-innen betreffen, ist Kurzarbeit und/oder Arbeitslosigkeit – welche Folgen kann das haben?

Das Leben hat sich für Personen in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit sehr abrupt verändert. Die Tagesstruktur, das Erleben von Sinn und Gebrauchtwerden und die Sozialkontakte, die mit der Berufstätigkeit einhergehen, sind schlagartig weggefallen. Hinzugekommen sind Zukunftsängste, Unsicherheitsgefühle und Beschränkungen der persönlichen Freiheiten und Sozialkontakte. 

Das sind sehr große Herausforderungen und Belastungsfaktoren, mit denen jeder, abhängig von seinen persönlichen Ressourcen, der Lebenssituation und eigenen Gesundheitsstrategien, unterschiedlich umgeht. Dies kann bei Menschen während dieser Krisenzeit auch zu vermehrtem Substanzkonsum führen. 

Als Gründe werden Langeweile, das Bedürfnis nach Entspannung, Hilfe zum Einschlafen oder um Sorgen und Zukunftsängste in den Griff zu bekommen, genannt. In diesen Fällen dient der Substanzkonsum oftmals  der Bewältigung der derzeitigen Krisensituation. 

FRAGE 3:

Andere Menschen stehen vor einer ganz anderen Herausforderung, da sie in diesen Zeiten besonders gefordert sind und sie zur gewohnten Arbeit meistens auch noch mit zusätzlichen Aufgaben – wie dem Einhalten neuer Hygienevorschriften – konfrontiert werden, wie etwa im Gesundheitsbereich, Handel oder auch Zustelldienste. Was bedeutet die Coronakrise für diese Gruppe?

Die Beschäftigten in strategisch wichtigen Berufsgruppen sind derzeit hohen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt, verbunden mit der Angst, sich vielleicht selbst mit dem Covid19 Virus anzustecken.

Im Homeoffice wirkt sich die Mehrfachbelastung durch Berufstätigkeit, Haushaltsführung, Angehörigenbetreuung, Schule zu Hause und attraktive Freizeitgestaltung für Kinder und Familie, als große psychosoziale Belastung aus. Hier kann der Substanzkonsum vermehrt die Funktion der Entspannung nach hoher Belastung, des Druck- und Stressabbaus und des Distanzgewinns zur belastenden Arbeits- und Lebenssituation einnehmen.

FRAGE 4:

Substanzen werden also vor allem auch konsumiert, um mit den neuen Belastungen besser umzugehen, inwiefern ist das problematisch? 

Je regelmäßiger und unbewusster sich der Substanzkonsum in den Tagesablauf integriert, umso selbstverständlicher und unbedachter wird dieser. Dies kann einerseits zu einer Gewohnheitsentwicklung – Konsum ist zum Ritual geworden und wird nicht mehr hinterfragt – führen. Andererseits kann dies auch zu einer Gewöhnung, einer zunehmenden Toleranzentwicklung auf körperlicher Ebene ("Ich brauche eine größere Menge der Substanz, um die gleiche Wirkung zu erzielen.") führen.

In vielen Suchtentstehungstheorien ist die Phase des gewohnheitsmäßigen Konsums oder der Gewöhnung eine Vorstufe zur Sucht, zur Abhängigkeitsentwicklung, weil der gewohnheitsmäßig höhere Konsum oft unbemerkt aufrechterhalten und weitergeführt wird - auch wenn sich die ursprüngliche Krisen- und Belastungssituation verändert oder verbessert hat. Gewohnheitskonsum stellt also einen Risikofaktor für eine Suchtentwicklung dar.

Weiterführende Informationen:

FRAGE 5:

Von den zahlreichen Veränderungen der Arbeitswelt sind nicht nur Arbeitnehmer/-innen betroffen, sondern auch ihre Arbeitgeber. Die Verantwortung, die der Arbeitgeber gegenüber seinen Beschäftigten hat, ist in Krisenzeiten besonders wichtig. Welche Empfehlungen gibt es aus Ihrer Sicht für Führungskräfte in der Krise gerade im Hinblick auf das Konsumieren von Substanzen? Was können Betriebe für ihre Mitarbeiter/-innen tun?

Natürlich haben die Betriebe in Zeiten von Home Office und Kurzarbeit eine besondere Fürsorgepflicht für ihre Beschäftigten. Umso mehr, weil kein physischer Alltagskontakt zwischen Führungskraft und Beschäftigten besteht, in dem Führungskräfte auf Wahrnehmungen von psychischen, sozialen oder körperlichen Belastungen reagieren könnten. 

Bei Beschäftigten im Home Office ist es wichtig, dass klare Vereinbarungen über zu erfüllende Aufgaben beziehungsweise zu erreichende Ziele, über die Zusammenarbeit und Zeiten der Erreichbarkeiten getroffen und die Mitarbeiter/-innen hier aktiv miteinbezogen werden. Ein regelmäßiger Einzelkontakt mit Mitarbeitern/-innen ist empfehlenswert, da hier neben den beruflichen Aspekten auch persönliche Befindlichkeiten beziehungsweise Probleme der Mehrfachbelastung im Home Office offen angesprochen werden können. 

Aber auch der soziale und zwischenmenschliche Kontakt darf nicht auf der Strecke bleiben und kann auch digital, zum Beispiel  über eine virtuelle Kaffee- oder Mittagspause, gestaltet werden. Da muss die Führungskraft nicht immer dabei sein und es sollte die Vereinbarung gelten, dass nicht über berufliche Aspekte gesprochen wird.

So vermitteln Führungskräfte ein Gefühl von Transparenz, Interesse und Aufmerksamkeit und tragen dazu bei, Unsicherheitsgefühle und Zukunftsängste zu minimieren. Das ist ein aktiver Beitrag zur Suchtprävention!  Zudem kann bei auftauchenden Problemen oder Belastungen möglichst früh zu Hilfseinrichtungen vermittelt werden, damit sich diese nicht verfestigen. 

Weiterführende Informationen: 

FRAGE 6:

Wie ist aus Ihrer Sicht die Kurzarbeit zu beurteilen? Was gibt es dabei aus Ihrer Sicht als Arbeitgeber zu berücksichtigen?

Sehr wichtig war, dass die Sozialpartner sehr rasch das Modell der Corona- Kurzarbeit ausgearbeitet haben und Unternehmen dieses Angebot auch in Anspruch nehmen. Der Erhalt des Arbeitsplatzes in dieser unsicheren Zeit ist ein wesentlicher Beitrag, den Beschäftigten Sicherheit und eine Zukunftsperspektive zu vermitteln. Arbeitslosigkeit ist definitiv ein hoher Risikofaktor für die Entstehung von psychosozialen Problemen, besonders für die Entwicklung von Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen und sollte möglichst vermieden werden.

Die Gefahr bei Arbeitnehmer/-innen in der Kurzarbeit sehe ich in dem Phänomen „aus den Augen, aus dem Sinn“. Die Beschäftigten sind, bis auf einen kleinen Teil Arbeitsverpflichtung freigestellt, das Prinzip 10 Prozent Arbeitsleistung darf aber nicht zu 10 Prozent Fürsorgepflicht führen. Gerade während der Kurzarbeit sollte die Führungskraft ein aktives Bindeglied zwischen Betrieb und Beschäftigten sein und regelmäßig Kontakt halten. Dies kann  etwa über eine WhatsApp Gruppe, wiederkehrende Videokonferenzmeetings  oder gelegentliche Einzelkontakte laufen. Es soll über den aktuellen Stand im Betrieb und zukünftige Überlegungen informiert werden, aber auch Interesse für die Befindlichkeiten und  Probleme der Beschäftigten gezeigt werden. 

Führungskräfte sollten ein offenes Ohr für ihre Mitarbeiter/-innen haben, ihnen vermitteln, dass sie erreichbar sind und bei Problemen Unterstützung und Hilfe anbieten.  Und sie sollten immer wieder mal nachfragen, wie es ihren Mitarbeitern/-innen in der neuen Situation geht und „ob und wo der Schuh drückt“.

FRAGE 7:

Verändert hat sich mit Sicherheit auch die Arbeit von Betriebsräten/-innen. Gewohnte Informationskanäle fallen weg, neue Fragen entstehen und die Antworten darauf ändern sich laufend. Welche Empfehlungen gibt es für die Arbeit als Betriebsrat? 

Die wesentliche Aufgabe der Betriebsräte/-innen in dieser Krisenzeit sehe ich darin, die Zukunfts- und Arbeitsplatzängste der Belegschaft möglichst gering zu halten und für eine sachliche und transparente Information der Belegschaft über die derzeitige Situation zu sorgen. Je enger Unternehmensleitung und Betriebsrat an einem gemeinsamen Strang ziehen und je abgestimmter die Strategien für den Umgang mit der Krise sind, desto weniger Ängste und Phantasien, die Zukunft und den Arbeitsplatz betreffend, tauchen bei den Beschäftigten auf.

Der Betriebsrat ist mehr den je für die Wahrung der Mitarbeiterinteressen zuständig. Da derzeit aber Kurzkontakte mit den Beschäftigten über etwa mittels Firmenrundgang, Ganggespräche, Mittagstisch-Infos wegfallen, ist es wichtig, andere Kontaktangebote zu setzen. Klare telefonische Erreichbarkeiten und digitale Sprechstunden-Zeiten, WhatsApp Gruppen oder Videotelefonate können hier ein Ersatzangebot für die persönlichen Alltagskontakte sein.

Allgemeine Informationen, die man sonst am Schwarzen Brett oder auf Infoscreens in den Werkshallen vermittelt hat, sollten jetzt digital verbreitet werden. Dafür bieten sich Newsletter, Intranet, Updates über Kurzvideos oder das Erstellen von geschlossenen Chatgruppen an.

FRAGE 8:

Wie kann man sich gegenüber Personen verhalten, bei denen man vermutet, dass sie Substanzen konsumieren? Soll man diese Vermutung ansprechen, wenn ja wie? Oder gibt es andere Signale, die man beachten kann?

Bei Vermutungen über Substanzmissbrauch und Suchtgefährdung im Kontext der beruflichen Tätigkeit stellt sich vor allem die Frage, ob konkrete Wahrnehmungen und Auffälligkeiten diesbezüglich vorliegen und ob und wie stark sich diese negativ auf das Arbeits-, Leistungs- und Sozialverhalten auswirken.
 
In Zeiten von Home Office und Kurzarbeit ist es generell um einiges schwieriger, problematische Konsummuster von Mitarbeiter/-innen frühzeitig zu erkennen. Die täglichen persönlichen Begegnungen sowie der regelmäßige Einblick in das Arbeits- und Leistungsverhalten fallen weg. Zudem macht es einen Unterschied, ob ich diese Wahrnehmungen als Führungskraft, Kollege oder Betriebsrat mache. 

FRAGE 9:

Wie verhalte ich mich am besten als Führungskraft?

Als Führungskraft sollte man auf jeden Fall auf konkrete Auffälligkeiten und Wahrnehmungen die Arbeit betreffend, zum Beispiel veränderte Arbeitsleistungen, bisher nicht gekannte Unzuverlässigkeiten (Versäumen von Terminen, mangelnde Genauigkeit, nicht erreichbar sein), Veränderungen im Sozialverhalten (zum Beispiel ungepflegtes Äußeres oder rüde Umgangsformen) reagieren und in einem Klärungsgespräch auf die möglichen Ursachen eingehen und die eigene Sorge zum Ausdruck bringen.  

Gibt es konkrete Hinweise, dass diese Veränderungen mit zunehmenden Substanzkonsum zusammenhängen, sollte dies auf Basis konkreter Beobachtungen und Wahrnehmungen angesprochen werden. Im Erstgespräch sollen klare Vereinbarungen, wie man wieder zum gewohnten Arbeits- und Leistungsverhalten zurückkommt, getroffen und Punktnüchternheit (unbeeinträchtigtes Arbeiten von Dienstbeginn bis zum Dienstende) ausgemacht werden. Ein Beobachtungszeitraum und die Terminisierung eines Folgegesprächs, um die Einhaltungen der Vereinbarungen zu überprüfen, haben sich bewährt. 

Es kann auch sinnvoll sein, bereits im Erstgespräch auf interne oder externe Hilfsangebote (Betriebsmedizin, Arbeitspsychologie oder Beratungsstellen) hinzuweisen.

FRAGE 10:

Und was kann ich als Kollege/-in oder Betriebsrat tun?

Als Kollege oder Betriebsrat ist es sinnvoll seine konkreten Wahrnehmungen in Bezug auf verändertes Arbeits-, Sozial- und Konsumverhalten anzusprechen und zum Ausdruck zu bringen, dass man sich Sorgen macht und man gerne Unterstützung und Hilfe anbieten möchte. 

Wir haben in diesem Zusammenhang eine eigene Webpage www.stepcheck.at – Früh erkennen und Handeln – erarbeitet. Diese Internetseite bietet konkrete Handlungsschritte und Hilfen für Führungskräfte zu den Themen Signale wahrnehmen, Früherkennen, Frühintervention und Arbeitsrecht an. Es finden sich auch klare Empfehlungen und Verhaltenshinweise was man als Kollege/-in tun kann.

FRAGE 11:

Welche Ratschläge kann man selbst befolgen, um gesund zu bleiben? Gibt es so etwas wie eine persönliche Suchtprävention, die Sie empfehlen können? Welche Angebote bietet das Institut Suchtprävention an?
 
Jeder hat seine bewährten Strategien, wie er mit Belastungen, Stress und Schieflagen – wenn täglich die Anforderungen die persönlichen Ressourcen übersteigen – umgeht. Einige davon lassen sich auch in dieser Krisenzeit gut nutzen, andere sind vielleicht derzeit nicht umsetzbar. 

In der Suchtprävention verwenden wir oft das „Tankmodell“ als konkretes Bild. Wo liegen die wesentlichen Tankstellen, die einem den notwendigen „Sprit“ liefern und den eigenen Seelentank hoch halten, um mit den Anforderungen des Lebens gut zurecht zu kommen? Ein Innehalten und ein Überprüfen des eigenen Seelentanks und der Verfügbarkeit bewährter Tankstellen kann hier sehr hilfreich sein, um sich vielleicht bewusst neue Tankstellen zu erschließen.

Eine Anleitung dazu und eine Vielzahl von Informationen, wie sie möglichst gesund und suchtfrei durch die Corona-Krise zu kommen, haben wir auf der Homepage www.praevention.at zusammengestellt.

Zum Beispiel:

  • Corona + Substanzkonsum
  • Corona + Arbeitswelt
  • Corona + Alltag mit Kindern
  • Corona + Partnerschaft
  • Corona + Stressreduktion

FRAGE 12:

Wohin kann man sich wenden, wenn man sich um sich selbst oder andere Sorgen macht?

Für Fragen im Zusammenhang mit Suchtprävention und Frühintervention stehe ich persönlich gerne für Fachberatungen über E-Mail oder per Telefon zur Verfügung: herbert.baumgartner@praevention.at, +43 664 4355325.

Wenn Sie sich um andere Personen sorgen machen, empfehlen wir, sich mit spezialisierten Beratungseinrichtungen in Verbindung zu setzen, die gerade jetzt verstärkt ein telefonisches psychosoziales Angebot bieten, etwa Krisenhilfe der pro mente OÖ, Telefonseelsorge oder Suchtberatungsstellen.

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